Ganna Gnedkova: Cancel Culture? Canceled Culture

“The Nowhere Nation”, “A Nasty New Ukraine”, “The Unwanted Step-Child of Soviet Perestroika” - Titel dieser Art trugen viele Artikel internationaler Medien, als sich die Ukraine 1991 ihre Unabhängigkeit erkämpfte. Nachdem die Geschichte der Ukraine von der Sowjetunion umgeschrieben, umgedeutet und ihre Kultur und Sprache über Jahrzehnte verboten gewesen waren, war das keine Überraschung - damals 1991.

Heute, im Jahre 2022, stoße ich immer wieder auf Artikel, die die Ukraine als ein 31 Jahre junges Land bezeichnen. Auf Artikel, die mal “Präsident Selenskyj”, mal “Präsident Zeleski”, mal “der 44-jährige” schreiben. Das Bild der Ukraine wird bewusst oder unbewusst infantilisiert. Und ich frage mich warum.

Hier sind die häufigsten Fragen über die Ukraine, die das deutschsprachige Google vorschlägt:

  • Hat die Ukraine mal zu Russland gehört?

  • Hat die Krim zu Russland gehört?

  • Wie hieß die Ukraine früher?

  • Ist die Ukraine selbstständig?

  • Ist Ukrainisch eine eigene Sprache?

  • Wie ähnlich sind Russisch und Ukrainisch?

  • War die Ukraine Teil der Sowjetunion?

  • Warum wurde die Krim verschenkt?

Google kennt auch Antworten auf diese Fragen. Diese hätte man gebraucht, als man damals die oben genannten Artikel geschrieben hat. 

Aber interessanter als die Antworten sind für mich die Fragen selbst. Nicht nur wird die Ukraine immer wieder infantilisiert: Die Geschichte dieses Staates, des größten Staates, der ausschließlich in Europa liegt, wird immer noch durch das Prisma Russlands gesehen, immer wieder nur in Verbindung mit der russischen Geschichte wahrgenommen. Man hat nichts von der Ukraine gehört, hat aber gehört, dass die Krim “verschenkt” wurde, und möchte nur eines wissen: warum genau. Manche scheinen sich immer noch zu fragen, ob die Ukraine selbstständig ist und eine eigene Sprache hat.

2019 nahm ich zum ersten Mal an der Philologischen Konferenz in Estland teil. Die daraus hervorgehenden Artikel sollten im Konferenzband “Studia Slavica” erscheinen. Als Komparatistin, die gerne Einflüsse eines Werkes auf andere untersucht, habe ich damals vorgeschlagen, in meinem Vortrag den Einfluss Elfriede Jelineks auf Oksana Sabuschkos Prosa zu untersuchen. Die Rückmeldung, die ich bekam, war äußerst freundlich: Mir wurde empfohlen, ein anderes Thema für meine Bewerbung zu wählen, denn Oksana Sabuschko kenne man eher nicht und dieses Thema würde im anonymisierten Bewerbungsprozess sicher abgewiesen. Das hat mich gewundert, weil ich ja keinen absolut unbekannten Autor vorgeschlagen habe. Oksana Sabuschko ist eine der berühmtesten zeitgenössischen Essayistinnen und Schriftstellerinnen der Ukraine, mit mehreren internationalen Preisen und Auszeichnungen an ihrem Gürtel. Ihre Werke wurden schon in über 20 Sprachen übersetzt.

Es war noch genug Zeit bis zur Deadline. Ich habe also ein anderes Thema ausgesucht: Gustav Meyrinks Der Golem und sein Einfluss auf Daniil Charms. Ich bin der komparatistischen Methode treu geblieben. Ich habe den “Außenseiter” der russischen Sowjetliteratur gewählt. Dieses Thema wurde willkommen geheißen. Die KonferenzorganisatorInnen waren so freundlich und nett wie ihr privater Ratschlag. Sie kannten die Ukraine. Sie kannten ihre Kultur. Aber sie wussten, wie die Welt tickt. Und bei der Konferenz wurde mir dann auch klar, dass “Studia Slavica” eher “Studia Russica” ist. 

Am 25. März 2022 beschwerte sich Wladimir Putin im Rahmen eines öffentlichen Treffens mit PräsidialpreisträgerInnen für Kunst und Kultur, dass die russische Kultur nun Opfer der cancel culture geworden sei, was natürlich nicht stimmt. Gleichzeitig würde Russland natürlich niemals zugeben, dass die Ukraine seit mehreren Jahrhunderten wegen des russischen Imperialismus eine (wirklich) canceled culture ist. 

Eine Kultur, die den Walujew-Zirkular (1863), den Emser Erlass (1876), die Russifizierungspolitik der Sowjetunion, die sogenannte “Erschossene Wiedergeburt” und mehrere andere Repressionen gegen die intellektuelle Elite des Landes seitens Russlands erlebte. Nur wenige KennerInnen assoziieren Nikolai Gogol, Anton Tschechow, Anna Achmatowa, Alexandra Exter, Dawid Burljuk, Kasimir Malewitsch und andere mit der Ukraine. Russische Quellen halten das für “irrelevant”. Und deutschsprachige Quellen, die ihre Inhalte zumeist aus dem Russischen übersetzen, finden diese Informationen einfach nicht. Selbst die Transliteration ihrer Namen (Nikolai, Alexandra, Dawid etc.), genauso wie jene ukrainischer Ortsnamen, wird im Deutschen aus der russischen Sprache abgeleitet.  

Das sind Tatsachen einer postkolonialen Kultur, die der westliche Postkolonialismus, geblendet von der russischen Kulturpropaganda, schon immer wenig wahrgenommen hat. So geht es nicht nur der Ukraine, sondern allen postsowjetischen Kulturen, die nicht Russland sind, denn Russland hat es geschafft, sich das kulturelle Erbe der Sowjetunion einzuverleiben. Auch auf das Gesamterbe der Kyjiwer Rus erhebt Russland Ansprüche, wie man in dem Essay Wladimir Putins “Über die Einigkeit der Russen und der Ukrainer” vom 12. Juli 2021 lesen kann.

Selbst heute versucht man noch, Begründungen für die Aggression gegen die Ukraine in der vom Aggressor erzählten Geschichte dieses Landes zu suchen. Selbst heute wird noch begierig dem zugehört, was berühmte russische AutorInnen über die Situation in der Ukraine zu sagen haben. Fragen Sie lieber nicht Russland, nicht russische AutorInnen. Da sollten sie lieber Google fragen. Oder vielleicht endlich uns UkrainerInnen?

Peter Huemer