Andriy Yavorskyi: Die surreale russische Welt

Auf den ersten Blick scheint es einem unmöglich, unlogisch, unverständlich – aber es ist immer noch der Fall.

Ja, sogar im sechsten Monat des blutigen russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine hört man immer noch Äußerungen, die die russische Aggression zu rechtfertigen versuchen.

Ganze Großstädte vernichtet; Zehntausende getötet; Millionen vertrieben; weitere Millionen in akute Armut gestürzt; unzählige Gräueltaten verübt, unter anderem an Frauen und Kindern. Und das ist nur der Anfang der Liste von Russlands Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Ukraine.

Vor kurzem kam noch die Tötung einer Gruppe ukrainischer Kriegsgefangener hinzu – wenig überraschend versuchte Russland die Schuld dafür der Ukraine zuzuschieben.

Das lässt einen sofort an das vermutlich bekannteste Beispiel derartiger russischer Lügen der näheren Vergangenheit denken:_den Abschuss des Passagierflugzeugs MH17 (Malaysia-Airlines) durch eine von den russischen Streitkräften aus dem Donbas abgefeuerte Flugabwehrrakete. Trotz aller Beweise und trotz eines breiten internationalen Konsensus dafür, dass diese Tragödie durch Russland verursacht wurde, beschuldigt Russland – nach der Fabrikation gefühlt einhundert verschiedener Versionen des Ereignisses – die Ukraine.

Dieses Verhalten ist symptomatisch für das Russland des 20. und 21. Jahrhunderts. Nachdem man ursprünglich die Annexion der Krim bestritten hatte und nachdem man jahrelang die eigene Teilnahme am Krieg im Donbas bestritten hatte, ließ Russland im Februar 2022 endgültig alle Masken fallen und attackierte die Ukraine offen und mit voller Kraft auf allen Fronten. Die Rhetorik aber blieb unverändert. Schuld ist Russland zufolge jeder außer Russland selbst...

Für Russland reicht es als Rechtfertigung für den Krieg gegen die Ukraine, dass auch andere Länder schon einmal Kriege begonnen haben.

Nun, Kriege werden bereits seit Jahrtausenden geführt. Russland bleibt uns die Ergänzung schuldig, ob jetzt die Feldzüge Alexanders des Großen oder die Napoleonischen Kriege der wahre Grund (und die Rechtfertigung) für den aktuellen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist.

Nein, ganz ehrlich: Wenn man ständig auf die Kriege unserer Vorfahren als Vorwand und Rechtfertigung heranzieht, wird die Menschheit niemals aufhören Krieg zu führen und das Völkerrecht wird niemals auch nur das Papier wert sein auf dem es geschrieben steht. Ist das unsere Vorstellung davon, wie die Welt funktionieren soll? Wollen wir ständig in der Angst leben, dass jemand mit Hinweis auf vergangene Kriege neue vom Zaun bricht?

Schuld an der Aggression gegen die Ukraine ist laut Russland die Ukraine selbst, weil sie als souveräner, demokratischer Staat, den NATO-Beitritt anstrebt und dabei dem Willen der überwiegenden Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung folgt.

Bei dieser Begründung kann man nur ungläubig staunen. Nehmen wir irgendein ein Land als Beispiel: Tschechien. Auch die tschechische Bevölkerung hat sich einmal für den Beitritt ihres Landes in die NATO entschieden. Hätte Russland (seiner eigenen Logik folgend) also auch das Recht einen Krieg gegen Tschechien zu beginnen? Oder hat Russland dieses Recht etwa immer noch? Diese Frage an die TschechInnen zu richten würde ich mir nicht trauen.

Schuld daran, dass Russland eine De-facto-Diktatur ist – und noch dazu eines der korruptesten Länder auf der Welt – ist, Russlands zufolge… Sie haben es erraten – der Westen (Ein diffuses Wort für alles Böse in Russland)! Schon klar, der Westen muss es sein!

Damit hört es für Russland aber noch nicht getan. Es geht noch weiter. So mancher in Russland meint sogar der Westen habe den Krieg angefangen und Russland verteidige sich bloß. Ja, in der russischen Kriegsrhetorik scheint alles möglich. Als Beweis für die „Aggression des Westens“ wird Russland wohl als Nächstes seine enorme wirtschaftliche Abhängigkeit von Rohstoffexporten in den Westen anführen. Damit ist die Absurdität vollkommen. Würde Russland eines Tages behaupten schwarz sei weiß wäre wohl niemand überrascht.

Was aber noch schwerer zu glauben ist als Russlands absurde Argumentation ist, dass immer noch – auch in den Ländern der EU – Menschen gibt, die an diese parallele Realität glauben und zur Verbreitung der russischen Weltsicht beitragen... Bei in Russland lebenden Menschen ist es noch halbwegs nachvollziehbar. Einige Nordkoreaner glauben ja auch daran, dass sie im glücklichsten Land auf der Welt leben. Dass aber Österreicher, Deutsche oder Italiener in dieselbe Falle treten? Man könnte sprachlos werden.

Und dann gibt es noch jene Menschen, die zwar Russlands Verbrechen verurteilen, gleichzeitig aber bedingungslose Neutralität predigen – oder anders ausgedrückt die Kapitulation der Ukraine verlangen.

Diese Personen sollte man an die Untätigkeit, demonstrative Neutralität und die Appeasement-Politik der europäischen Mächte gegenüber des NS-Regimes im Vorfeld des 2. Weltkrieges erinnern. Die Unterschiede zwischen dem Verhalten des NS-Regimes und des modernen Russlands werden von Woche zu Woche weniger – die Parallelen mehr.

Diesen Vergleich will ich aber nicht einfach so in den Raum stellen. Stattdessen möchte ich ihn anhand eines weiteren Beispiels erläutern. Und wieder bietet sich Tschechien als Beispielland an. Stellen Sie sich vor: Tschechien hält der Invasion durch die Nationalsozialisten monatelang stand – wäre es für den Rest Europas angebracht eine Kapitulation zu fordern? Oder wäre es doch eher angebracht Tschechien durch größtmögliche Waffenlieferung zu unterstützen (in voratomarer Zeit wäre es wohl sogar angebracht direkt auf Seiten Tschechiens in den Krieg einzugreifen)? Ich glaube (vor allem mit unserem heutigen historischen Wissen) ist diese Frage nicht schwer zu beantworten.

Zu guter Letzt frage ich mich ob die Befürworter bedingungsloser europäischer Neutralität, diese Ansichten auch vertreten würden, wenn ihre Familienangehörigen von Invasoren, russischen „Befreiern“ getötet, verstümmelt, vergewaltigt würden. Sie meinen das könne nie passieren?

Denken Sie mit meinen Worten im Hinterkopf noch einmal darüber nach.

In der surrealen russischen Welt ist leider alles möglich.

Peter Huemer