Offener Brief an Dr. Harald Mahrer und die Wirtschaftskammer Wien 10.06.2022
Sehr geehrter Herr Dr. Harald Mahrer,
Sehr geehrte Wirtschaftskammer Wien!
Wir wenden uns als Vertreter*innen und Unterstützer*innen von Organisationen der ukrainischen Diaspora in Österreich an Sie.
Eines der Plakate Ihrer Kampagne „Gemeinsam. Das ist unser Wien“ zeigt das in Wien lebende Ehepaar Kolokolow. Wladimir Kolokolow hält ein Puzzleteil in den Farben der Russischen Föderation, also Weiß-Blau-Rot, Valentyna Kolokolow einen Puzzleteil in den Farben der Ukraine, also Gelb-Blau. Die beiden strahlen um die Wette. Warum können wir uns nicht alle vertragen? Die Puzzleteile passen doch zusammen.
Auf dem Facebook-Profil von Valentyna Kolokolow gibt es keinen Hinweis darauf, dass sie Ukrainerin ist. Tatsächlich unterstützt sie dort die Gruppe Координационный совет организаций российских соотечественников Австрии, also den Koordinierungsrat der Organisationen russischer Landsleute in Österreich.
Der Koordinierungsrat eilt der Landsfrau Valentyna Kolokolow in seinem Posting vom 27. Mai 2022 auf Facebook zu Hilfe:
„ Sehr geehrter Herr Eichmair, wir würden Ihnen empfehlen, sich den Begriff
„russische Landsleute“ genauer anzuschauen. Ukrainer sind ein Teil davon genauso wie Russen und mehr als hundert andere Völker. Wie Sie wissen, ist Russland ein Mehrnationalitätenstaat. Alle haben ihre Unterschiede und Besonderheiten, aber alle versuchen, in Frieden, Freundschaft und Harmonie zu leben. Das ist es, was wir auch in Wien begrüßen und schätzen. Aus diesem Grund ist uns Ihre scharfe Reaktion völlig unverständlich.“
Also die Menschen in der Ukraine werden seit der endgültigen Eskalation des russischen Kriegs am 24. Februar 2022 in der eigenen Heimat gedemütigt, vergewaltigt, deportiert, verstümmelt, geschlachtet, verbrannt, erschossen oder in den Selbstmord getrieben. Sie erleben, so sie noch leben, täglich die eigentümlichen Vorstellungen Putins Armee von Friede, Freundschaft und Harmonie.
Ein Detail am Rande: Diplomatische Vertreter*innen der Russischen Föderation wurden ersucht, am 15. Mai 2022 nicht an der Mauthausen-Befreiungsfeier teilzunehmen. Gekommen sind sie trotzdem, angemeldet als der genannte Koordinierungsrat.
Wir lieben Wien sehr fürs eine Vielfalt und den lange konstruktiven Dialog. Wir bedanken uns im Voraus für die Bereitschaft des Meinungsaustausches.
Viele von uns fragen sich, ob wir eine Pointe der WKO verpassen, ob es sich bei dem Plakat vielleicht um ein Fehlerbild handelt oder eventuell um das Aufzeigen von Parallelen beispielsweise zum Nationalsozialismus, in dem ja die Ukraine auch schon acht Millionen Leben gelassen hat.
Wir wären der WKO sehr dankbar, wenn Sie uns Menschen der Ukraine Paartherapien empfehlen könnten oder vielleicht Konversationstherapien oder was immer Sie für nötig halten, damit wir den Absichten Ihres Plakats besser folgen können und vielleicht etwas Ablenkung haben von unseren Sorgen, ob unsere Familien und Freund*innen noch am Leben sind und unsere Häuser noch stehen, und auch der Retraumatisierung, die viele von uns jetzt erfahren, wenn Putin mit seiner Propaganda auch im vermeintlich sicheren Wien nach uns greift, um unsere eigene Geschichte und Identität in Abrede zu stellen, wie das Valentyna Kolokolow auf Ihrem Poster blendend vorzeigt.
Wir haben auch schon über die Möglichkeit nachgedacht, dass der WKO vielleicht tatsächlich ein Fehler unterlaufen ist, zu dessen Aufklärung wir beitragen könnten. In der Ukraine beschäftigen wir uns notgedrungen schon eine ganze Weile mit Putins Propaganda. Das von Russland im Zuge der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim inszenierte Narrativ der sogenannten Grünen Männchen beispielsweise war eine Meisterleistung dieses Apparats und erinnert auch etwas an das Sujet der WKO.
Tatsächlich macht der Angriffs- und Vernichtungskrieg Russlands gegen die Ukraine auch viele Russ*innen sehr betroffen. Diese Betroffenheit ist freilich nicht dieselbe wie jene der Ukrainer*innen in diesem Krieg. Sie macht uns dennoch Mut. Die kritischen Russ*innen riskieren viel dabei, wenn sie mit ihren Fahnen in Weiß-Blau-Weiß Solidarität mit uns Menschen der Ukraine zeigen.
Wir verstehen auch aus der eigenen Betroffenheit gut, dass die Nachrichtenlage unübersichtlich ist. Russland setzt in diesem Krieg mindestens ebenso auf die Waffe der Propaganda wie auf Bomben und Granaten. Der amerikanische Historiker und Ukraine-Experte Timothy Snyder leistet mit seinen Aufarbeitungen einen besonders wichtigen Beitrag, die aktuellen Geschehnisse einzuordnen. Snyders Kanäle können wir allen nur ans Herz legen.
Es gelingt Putin hervorragend, die Rolle der Russischen Föderation als Aggressor in rezenten Konflikten wie in Abchasien, Südossetien, Transnistrien, Tschetschenien oder eben seit 2014 in der Ukraine ebenso in Friede, Freundschaft und Harmonie umzudeuten, wie Russlands Völkermorde im Baltikum, an den Kasach*innen, den Krimtartar*innen, den Ukrainer*innen und vielen anderen. Das oben angeführte Zitat des Koordinierungsrats gibt einen Hinweis darauf, wie solche Umdeutungen im Bewusstsein der Menschen angelegt und verfestigt gehen.
Wir freuen uns und halten es für wichtig, dass WKO die Plakate nun nimmt. Wir würden gerne vorschlagen, ein Treffen zu vereinbaren, wo wir den Vorfall abschließend mit Ihnen besprechen und gemeinsam über Möglichkeiten zur Gestaltung einer für alle sicheren Zukunft in Wien sprechen können. Wir Ukrainer*innen sind ein bunter Haufen Menschen. Selbstverständlich gibt es auch bei uns Ausreißer, mit denen viele nicht über einen Kamm geschoren werden möchten. Sie kennen das vielleicht aus Österreich. Unsere Vielfalt macht es vielleicht auch manchmal etwas schwierig, bei praktischen Entscheidungen, die rasch erfolgen müssen, das jeweils passende, sozusagen unstrittige Gegenüber zu finden, insbesondere für Außenstehende. Die mitgliederstärksten Organisationen der ukrainischen Diaspora in Österreich haben sich zusammengetan und schicken Ihnen diesen Brief gemeinsam. Wir stehen Ihnen gerne auch gemeinsam zur Verfügung, wenn Sie Fragen und Anliegen haben, die uns betreffen.
Videos bitte verlinken mit unserem YouTube: Ukrainian Community Media Center - YouTube
Ursprünglich veröffentlicht hier: Statement – Ukraine Wien
Unterschrieben von mehreren ukrainischen Organisationen (siehe Statement – Ukraine Wien)